Die Schuldenkrise und die europäische Gewerkschaftsbewegung
von Vasco Pedrina
Nach dem »Finanz-Tsunami 2008/2009« ist die Lage vieler EU-Länder nicht zu beneiden. Europa ist der Kontinent mit den niedrigsten Wachstumsraten, der am meisten von der Finanzspekulation geplagt ist. Die Schuldenlast und die enormen makro-ökonomischen Ungleichgewichte zwischen Ländern der Euro-Zone – Folgen der neoliberalen Politik der letzten Jahrzehnte – wiegen schwer. Es ist kein Zufall, dass gerade Irland, der »Musterschüler« der neoliberalen »disziplinierten« Haushaltspolitik, an den Rand des Konkurses geraten ist. Immobilienkrise und Rettung der Banken haben das Haushaltsdefizit von beinahe Null auf -32,3% (in % des BIP) und die Schuldenquote von 25% auf 84,1% zwischen 2007 und 2010 klettern lassen. Ab Frühling 2010 sind die EU-Behörden und ihre Mitgliedstaaten – nach der gelungenen Rettung des Bankensystems und nach einer ersten Runde von Ankurbelungsmaßnahmen – dazu übergegangen, überall harte Sparprogramme zu verordnen, mit dem Ziel, die enormen Kosten der Finanzkrise auf die Beschäftigten und die Bezieher von sozialen Transferleistungen zu übertragen.
Nationale Sparprogramme und »Pakt für den Euro«: eine Sackgasse
Die nationalen Sparprogramme vor allem in den so genannten PIGS-Staaaten (Portugal, Irland, Griechenland und Spanien) sowie einigen Mittel- und Osteuropäischen Ländern wie Rumänien und Litauen haben ein unglaubliches und präzedenzloses Ausmaß angenommen. Die sozialen Auswirkungen sind massiv: Abbau von hunderttausenden von Arbeitsplätzen und Kürzung der Löhne im öffentlichen Dienst (5% in Spanien, 15% in Griechenland, bis zu 20% in Irland, 30% in Rumänien) mit entsprechender Signalwirkung auf den privaten Sektor, Kürzung der gesetzlichen Mindestlöhne (unter dem Druck von Brüssel musste die irische Regierung den Mindestlohn um 11,6% auf 7,65 Euro kürzen), Senkung der Renten und Erhöhung des Rentenalters (z.B. in Spanien), Kürzung der so genannten »sozialen Amortisatoren« (Arbeitslosenentschädigungen, Sozialhilfe, Familienunterstützung), Abbau beim »service public« und bei den öffentlichen Infrastrukturen. Zudem wurden in mehreren Ländern (Griechenland, Spanien, Rumänien, Ungarn, Portugal, usw.) Arbeitsmarktreformen unter dem Deckmantel der Arbeitsflexibilisierung durchgeboxt, die sowohl einen Abbau des Arbeitsschutzes wie eine Schwächung der Gewerkschaften mit sich bringen. Es geht nicht nur um Maßnahmen wie die Lockerung des Kündigungsschutzes, sondern auch um »Öffnungsklausel«, die den Firmen erlauben, nationale Branchenverträge zu unterbieten.
Diese nationalen Sparprogramme sind das Resultat einer koordinierten Politik der EU, die sich in ihren großen Zügen schon mit dem ersten EU/IWF-»Rettungsplan« für Griechenland vom Frühling 2010 abgezeichnet hat – in Verbindung mit dem so genannten »verstärkten Stabilitätspakt«. Nachfolger dieses Pakts waren im Januar 2011 der Vorschlag Merkel/Sarkozy für einen »Wettbewerbspakt« und ein paar Monate später der »Pakt für den Euro« – als Pendant zum neuen »Rettungsfonds« (ESM), der ab 2013 den bisherigen EMSF ablösen soll. Mit dem »Euro-Pakt« geben sich die EU und die Mitgliedstaaten extrem restriktive und anti-soziale Regeln. Der erste Schritt wurde bereits im vergangenen Jahr mit dem unrealistischen Ziel beschlossen, das jährliche Haushaltsdefizit überall bis 2013 auf 3% zu reduzieren (inzwischen spricht man für einzelne Länder von 2014/15). Der Euro-Pakt bestätigt aber nicht nur die Grenzen von 3% des BIP für das Haushaltsdefizit und von 60% für die Schuldenquote. Die Länder, die über diesen beiden Quoten liegen, müssen dazu jedes Jahr zusätzlich ihre Schulden um 1/20 reduzieren. Für Portugal, dessen Schuldenquote bei mehr als 80% liegt, bedeutet das eine zusätzliche jährliche Kürzung von 1%, für Italien zusätzliche Sparmaßnahmen in Höhe von ca. 45 Mrd. Euro. Unter dem Deckmantel des Kampfes gegen die »makro-ökonomischen Ungleichgewichte« werden Mechanismen eingeführt, die den EU-Behörden Mittel in die Hände geben, Druck auf die einzelnen Mitgliedstaaten auszuüben. Konkret heißt das u.a. die Einführung eines »Lohn- und Rentenkorsetts«, die Harmonisierung des Rentenalters nach oben und die Einführung von nationalen »Schuldenbremsen«. Das Lohnkorsett bedeutet EU-Druck für die Abschaffung jeglicher Form von Lohnindexierung, Grenzen bei den Lohnerhöhungen (Koppelung an die Produktivitätsentwicklung, aber nicht mehr an die Inflation) und Erleichterung von Lohndumping. Das Ganze bringt eine Infragestellung einer Säule des bisherigen »europäischen Sozialmodells« mit sich, nämlich der Tarifautonomie der Sozialpartner. Wie die oben erwähnten Beispiele zeigen, sind diese neuen Regeln in einigen Ländern bereits angewendet worden, bevor sie überhaupt in Kraft getreten sind!
Diese Politik ist nicht nur mit unermesslichen sozialen Leiden verbunden, sie mündet auch in eine volkswirtschaftliche Sackgasse. Griechenland führt es uns das heute schon vor Augen; Irland, Portugal, Spanien und bald Italien, das von den Ratingagenturen kürzlich vorgewarnt wurde, werden folgen. Griechenland praktiziert bereits das vierte Sparprogramm innerhalb von anderthalb Jahren. Den Prognosen nach hätte das Haushaltsdefizit auf 8,1% im Jahr 2010 gedrückt werden sollen, in der Tat ist es bei 10,5% verharrt. Die Schuldenlast ist auf 143% geklettert und soll 2011/2012 nochmals um 16% steigen, während die Risiko-Zuschläge für griechische Staatsanleihen eine Rekordhöhe von mehr als 20% erreicht haben. Eine wirklich ausweglose Situation! Der Grund ist einfach: Die rabiaten Sparrunden haben zu einer schweren und langwierigen Rezession geführt. Gemäß herrschender Politik soll der Schuldenberg durch harte Konsolidierungsprogramme abgebaut werden. Aber die »strikteste Haushaltsdisziplin verpufft, wenn die Volkswirtschaft nicht wächst. Folglich wird ein verschärfter Stabilitätspakt sich erneut als Irrweg erweisen«.
Auch das in die Wege geleitete Verfahren der EU-Behörde zur Bekämpfung der makro-ökonomischen Ungleichgewichte (Excessive Imbalances Procedure) ist untauglich. Das Auseinanderdriften der Leistungsbilanzsalden zwischen extrem exportorientierten Ländern wie Deutschland oder Finnland und Defizitländern wie den PIGS-Staaten will man nicht bekämpfen, indem man die sehr restriktive Lohnpolitik Deutschlands seit dem »Bündnis für Arbeit« der 1990er Jahre aufgibt, sondern indem der deutsche Weg den Defizitländern aufoktroyiert wird, obschon in keinem dieser Länder »die Löhne stärker als die Marge aus Inflationsrate und Produktivitätswachstum gestiegen sind«. Restriktive Lohnpolitik bedeutet bekanntlich überall Schwächung der Binnennachfrage und eine weitere Zunahme der Ungleichgewichte mit den dazu gehörigen steigenden politischen Spannungen zwischen den betroffenen Ländern, die auf der politischen Ebene vor allem die rechtspopulistische Welle zum Ausdruck bringt.
EGB-Forderungen für eine alternative Wirtschaftspolitik
Anlässlich seines Kongresses in Athen Mitte Mai 2011 hat der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) seine Opposition zur herrschenden Wirtschaftspolitik bekräftigt und einen Kurswechsel gefordert. Nur mit einem Mix von Maßnahmen, die auf Wachstum und gestaffelten Abbau der Schuldenberge und der Ungleichgewichte in den Leistungsbilanzsalden setzt, kann man aus der schweren Euro-Krise herauskommen. In einer vom Kongress verabschiedeten Resolution fordert deswegen der EGB einen »New Social and Green Deal«. Konkret:
– einen ehrgeizigen europäischen Investitions- und Beschäftigungsplan, finanziert durch die nicht in Anspruch genommenen Mittel der EU-Strukturfonds,
– die Herausgabe von Euro-Bonds (= EU-Obligationen), unterstützt durch die Europäische Zentralbank (EZB), um den Druck auf die Volkswirtschaften in Not zu reduzieren,
– zur Verfügungsstellung von liquiden Mittel durch die EZB mit niedrigen Zinsätzen nach den Bedürfnissen der EU-Mitgliedstaaten, wie dies zugunsten des Bankensektors praktiziert wird (nötig wäre sogar eine grundsätzlichere »Umschuldung«, d.h. einen zumindest teilweisen Schuldenerlass für die am stärksten verschuldeten Länder),
– Entwicklung einer ökologischen (CO2-arme) Industriepolitik unterstützt durch eine Reform der Fiskalpolitik; diese soll einen Riegel gegen die verbreitete Dumping-Politik durch Steuerwettbewerb zwischen Staaten schieben sowie neue Instrumente wie eine europäische Finanztransaktionssteuer und eine Boni-Steuer einführen.
Der EGB fordert auch eine grundlegende Überarbeitung des »Euro-Paktes«, vor allem was die vorgesehenen Maßnahmen im Lohnbereich anbelangt. Es ist völlig inakzeptabel und kontraproduktiv, die zentralisierten Tarif- und Lohnverhandlungen in Frage zu stellen, Lohnzuwächse nur im Rahmen der Produktivitätsentwicklung, aber ohne Berücksichtigung der Inflationsrate zu erlauben, Druck auf die Renten auszuüben, usw. Die Tarifautonomie der Sozialpartner darf nicht tangiert werden, Lohndumping darf nicht EU-Politik werden. Im Gegenteil: Es braucht eine expansive Lohnpolitik, die die Binnennachfrage stützt und die die zunehmenden Einkommensungleichgewichte reduziert.
Mobilisierungen und Proteste gegen die soziale Rosskur
Für dieses alternative Wirtschaftsprogramm hat der EGB drei europäische Aktionstage in diesem und im vergangenen Jahr organisiert, mit zentralen (in Brüssel) und dezentralen Demonstrationen in den Hauptstädten mehrerer EU-Länder. Ein vierter Aktionstag fand am 21. Juni mit einer Demonstration in Luxemburg im Vorfeld der Schlussabstimmung zum Euro-Pakt im EU-Parlament statt. Nicht nur in Griechenland, wo seit Anfang 2010 ein Dutzend Protesttage und Generalstreiks organisiert wurden, auch in mehreren anderen EU-Mitgliedstaaten haben Demonstrationen und Streiks stark zugenommen. Die Delegierten des EGB-Kongresses mussten jedoch feststellen, dass diese Mobilisierung nicht genügend Druck erzeugt haben, um die neoliberale Walze zu stoppen, geschweige denn einen Kurswechsel herbeizuführen.
Noch in den Zeiten des »sozialdemokratischen Kompromisses« der 1980er und frühen 1990 Jahre, als Jacques Delors Präsident der EU-Kommission war, wäre es spätestens nach solchen Protestaktionen möglich gewesen, am Verhandlungstisch mehr oder weniger ausgewogene Kompromisse zu vereinbaren. Heute ist das offensichtlich nicht mehr der Fall. Sowohl die EU-Behörden wie die einzelnen Mitgliedstaaten haben sich von den sozialen Protesten wenig beeindrucken lassen. Zwar ist es der europäischen Gewerkschaftsbewegung nach monatelangem Druck gelungen, die schlimmsten Formulierungen in den gesetzlichen Entwürfen zum Euro-Pakt streichen zu lassen, aber die Stoßrichtung der neuen Regeln bleibt in ihrem anti-sozialen Kern weiterhin bestehen. Nicht besser läuft es mit den nationalen Sparprogrammen, deren einseitige Auswirkungen sich von Runde zu Runde auf dem Buckel der Arbeitnehmenden verschärfen, wie die Entwicklung in Griechenland und Portugal am krassesten zeigt. Die vierte Sparrunde in Griechenland beinhaltet ein beschleunigtes Privatisierungsprogramm von 50 Mrd. Euro (sogar die Wasserversorgung ist davon betroffen), Steuererhöhungen und einen weiteren Abbau im öffentlichen Dienst (weitere Entlassungen und Lohnsenkungen stehen auf dem Programm).
Als wenn das nicht genug wäre, werden gleichzeitig zentrale Säulen des »europäischen Sozialmodells« hemmungslos angegriffen. Symptomatisch ist die Weigerung der EU-Behörde, die skandalöse Rechtsprechung des Europäischen Gerichthofes (EuGH) in den Fällen Laval, Viking, Rüffert und Luxemburg von 2007/08 auf gesetzlichem Weg zu korrigieren. Dabei wurden grundlegende Prinzipien zur Disposition gestellt, wie der Vorrang der sozialen Grundrechte vor den Binnenmarktfreiheiten, wie »Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit am gleichen Ort« (Vorortsprinzip bei der Lohnfestlegung), das Streikrecht im Kampf gegen Lohndumping und die Tarifautonomie.
Europäische Gewerkschaftsbewegung am Scheideweg
Die Entwicklung ist sehr besorgniserregend: Das »soziale Europa« ist massiv unter Druck geraten. Eine nüchterne Analyse des aktuellen Kräfteverhältnisses und der sozialen Dynamik in Europa führt zum Schluss, dass ein Kurswechsel nur möglich wäre mit europäisch koordinierten Streikbewegungen von ganz anderen Dimensionen als die bisherigen europäischen Aktionstage und nationalen Streiks. In der Tat haben wir es aber in Folge der Krise und der herrschenden Politik mit geschwächten Gewerkschaften zu tun, die sich immer mehr im nationalen Rahmen zurückgezogen haben, um dort den sozialen Widerstand zu leisten. Nur mit begrenzten Energien haben sie sich an europäischen Mobilisierungen beteiligt und das war eindeutig zu wenig: EGB-Demonstrationen in Brüssel mit 50.000 Teilnehmenden seitens einer Organisation, die mehr als 60 Mio. Mitglieder vertritt, reichen nicht. Deshalb ist es an der Zeit, die gewerkschaftliche Strategie zu überdenken. Welcher Ausweg? Welcher Befreiungsschlag?
Die Debatte dazu ist im Gange. Zwei Strömungen treten – schematisch betrachtet – in der europäischen Gewerkschaftsbewegung und in der politischen Linken in Erscheinung. Die eine Strömung plädiert für eine Strategie der »Renationalisierung der Politik«. Diese Strömung der »Rückzugs-Strategie« (oder wenn man will des »Réduit national«) vertritt die These, dass sich die EU auf dem hoffnungslosen Weg des ultraliberalen und antisozialen Zerfalls befindet. Die einzige realistische Antwort wäre die Bildung von Widerstandsnetzen und die Verteidigung des Sozialstaates im nationalen Rahmen. Die linken Exponenten, die solche Positionen vertreten, finden sich de facto im gleichen Lager wie die Konservativen in der Gewerkschaftsbewegung, die, wie die Nordischen Bünde, mit Abschottungsversuchen ihr »Nordisches Modell« bewahren möchten, als wenn dieses Modell nicht auch von der neusten Entwicklung bedroht wäre.
Die andere Strömung vertritt eine »Vorwärts-Strategie« der Europäisierung der sozialen Kämpfe. Die hier vertretene These ist, dass der einzige positive Ausweg – im Kontext der kapitalistischen Globalisierung und der Übermacht der Finanzmärkte – in einem quantitativen und qualitativen Sprung in der eigenen Politik und der Mobilisierung in Europa liegt. Das Zeitfenster, um diesen Sprung zu schaffen, ist nicht lange geöffnet. Die Gefahr ist, dass der Euro-Pakt und weitere Sparprogramme die Ungleichgewichte innerhalb und zwischen den Ländern in den nächsten Monaten bzw. Jahren so stark verschlechtern, dass die sozialen und politischen Spannungen, auch wegen der Erstarkung der rechtspopulistischen Kräfte, unerträglich werden. Die schon jetzt zunehmenden Spannungen zwischen Gewerkschaftsbünden des Nordens und des Südens Europas und zwischen Gewerkschaftsbünden innerhalb der einzelnen Ländern (siehe in Italien die Spaltung zwischen CGIL, UIL und CISL im Fall FIAT/Marchionne) lassen erahnen, wohin eine solche Entwicklung führen könnte – eben direkt in eine politische Lähmung.
Hebel für eine Europäisierung der sozialen Kämpfe in Europa
Die Streiks und Mobilisierungen der letzten anderthalb Jahre in den verschiedenen EU-Ländern haben neue Forderungen, neue Aktionsformen und neue soziale Allianzen entstehen lassen, von denen man viel lernen kann und die für eine wirksame europäische Vernetzung der Widerstandskräfte sehr hilfreich sein können. Gleichzeitig gilt es an dem qualitativen Sprung auch auf anderen Wegen zu arbeiten. Diesbezüglich standen im EGB-Kongress zwei mögliche – komplementär wirkende – Kampagnen im Vordergrund, die das Potential hätten, eine echte koordinierte Gegenoffensive in die Wege zu leiten.
Die eine Kampagne betrifft die Antwort auf die herrschende Wirtschaftspolitik. Es geht einerseits um das oben skizzierte Alternativprogramm, aber auch um eine deutlich verstärkte Koordination der Tarifpolitik und um eine offensive europäische Mindestlohnpolitik gegen die zunehmende Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang die Stärkung der Streikfähigkeit vor Ort, in den Betrieben. Ohne breite Diskussion und ohne Feuer hat der EGB-Kongress einen Antrag der Spanischen Bünde CC.OO und UGT akzeptiert, der den EGB und seine Mitglieder auffordert, koordinierte europäische Streiks bis zu einem europäischen Generalstreik zu prüfen. Der politische Wille dazu scheint leider noch nicht wirklich vorhanden zu sein, aber der Leidensdruck könnte die Stimmung mit der Zeit zum Kippen bringen.
Die zweite Kampagne mit dem Arbeitstitel »Gleiche Löhne – Gleiche Rechte« will den Kampf für die Arbeitnehmerrechte, die fast überall unter die Räder gekommen sind, und den Kampf gegen das sich verbreitende Lohndumping ins Zentrum stellen. Als Hebel für eine solche Kampagne hat der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) die Lancierung einer Europäischen Bürgerinitiative (EBI) unter dem Motto »Für ein Europa ohne Sozialdumping – Soziale Grundrechte vor Binnenmarktfreiheiten« vorgeschlagen. Gemäß der Lissabonner Verträge können 1 Million BürgerInnen ab dem 1. April 2012 die EU-Behörden dazu bewegen, gesetzgeberisch aktiv zu werden. Eine solche EBI würde die EU beauftragen, Vorkehrungen zu treffen, damit der Vorrang der sozialen Grundrechte vor den Binnenmarktfreiheiten sowie das Prinzip »Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit« nach dem Arbeitsortsprinzip in Zukunft in der EU allgemein gelten. In Zusammenhang mit den EuGH-Entscheidungen Laval und Rüffert würde das bedeuten, dass den entsandten Arbeitnehmern in Schweden schwedische und nicht lettische Löhne bezahlt werden und in Deutschland auch polnische Unternehmen regionale Mindestlöhne einhalten müssen. ¨
Die Lancierung einer EBI würde ermöglichen, eine breite politische Sensibilisierung und Mobilisierung vor Ort, in den Betrieben, in der gewerkschaftlichen Basis in ganz Europa herbeizuführen, was bis jetzt nicht möglich war. Andere soziale Bewegungen und politische Kräfte, welche die Sorge um die Zukunft des sozialen Europas teilen, könnten dafür gewonnen werden. Der EGB-Kongress hat dem Antrag für diese zweite Kampagne im Prinzip zugestimmt und den Auftrag für ihre Konkretisierung einer Arbeitsgruppe übertragen, aber er hat nicht grünes Licht für den verbindlichsten Hebel dazu gegeben, nämlich die Lancierung der vorgeschlagenen europäischen Bürgerinitiative. Der mögliche Einsatz eines solchen Instruments wird noch im Rahmen dieser Arbeitsgruppe geprüft. Die Bedenken und Widerstände kommen vor allem aus Ländern wie Frankreich, Belgien oder Italien, deren Gewerkschaftsorganisationen sagen, es gehöre nicht zu ihrer Tradition, Unterschriften für eine Initiative oder eine Petition zu sammeln. Manche von ihnen unterschätzen das Potential einer Volksinitiative, um den nötigen politischen Druck aufzubauen und die andauernde politische Blockade zu überwinden.
Der EGB-Kongress hätte ein doppeltes starkes Signal für eine europäische gewerkschaftliche Gegenoffensive geben können: mit dem klaren politischen Willen zu einer Europäisierung der sozialen Kämpfe und Streiks für eine alternative Wirtschaftspolitik und mit einer klaren Entscheidung zugunsten einer EBI zu den Arbeitnehmerrechten. Die fehlende Energie dazu lässt sich vermutlich mit den kassierten Schlägen und der Schwächung der Gewerkschaften in all den Jahren der Krise erklären. Man darf trotzdem hoffen, dass eine wirksame Antwort auf der Höhe der aktuellen Herausforderungen möglich sein wird, wenn der Leidensdruck noch zunimmt und sich die Erkenntnis durchsetzt, dass die nötige Kehrtwende nur mit einer verstärkten Koordinierung und kämpferischen Vernetzung der Gewerkschaftspolitik länderübergreifend zu schaffen ist. Auf dem Spiel steht die Zukunft des sozialen Europas und des europäischen Integrationsprozesses insgesamt!
Vasco Pedrina ist Nationaler Sekretär der Unia, Vizepräsident der Bau- und Holzarbeiter-Internationale und Vertreter des Schweizer Gewerkschaftsbundes (SGB) im Vorstand des EGB. Die Unia organisiert die Arbeitnehmer in Industrie, Gewerbe, Bau und privatem Dienstleistungssektor. Neben der Unia sind im SGB 15 Einzelgewerkschaften zusammengefasst.