100 Jahre Zimmerwald (Ewald Ackermann, SGB, 2 July 2015)

Robert Grimm gegen Lenin. Einer setzt sich durch, der andere setzt sich ab. Daraus wächst Weltgeschichte, 1915 in der Berner Landgemeinde Zimmerwald. Denn da treffen sich Vertreter/innen der sozialistischen Opposition zu einer Geheimkonferenz, um gegen den Krieg und für eine Wiedergeburt des Klassenkampfs anzutreten. In den ersten Septembertagen dieses Jahres wird das 100-Jahre-Jubiläum der Zimmerwalder-Konferenz gefeiert.

Eines der Hauptziele der 1889 gegründeten Zweiten sozialistischen Internationalen ist die friedliche Verständigung der Völker. Noch im Basler Kongress vom Herbst 1912 wehren sich die darin vereinten sozialistischen Parteien gegen einen Krieg und beschwören inter-nationale proletarische Solidarität. Der Feind, so die gemeinsame Einsicht, sei nicht der Arbeiter jenseits der Grenze sondern der Boss in der Nähe, oben. Bei Ausbruch des 1. Weltkriegs, im Sommer 1914, bricht diese Solidarität zusammen. Die sozialistischen Parteien der kriegführenden Staaten nehmen grossmehrheitlich einen engen nationalen Blickwinkel ein, akzeptieren den Krieg als einen der Verteidigung und stimmen den Kriegskrediten zu. Auch in der Schweiz setzt sich der Burgfrieden durch. Als einer der ersten erkennt Robert Grimm, der führende Kopf in der SPS, dass die Arbeiterklasse die Zeche dieser Einigung zu zahlen hat. Grimm ist die treibende Kraft in einer Minderheitsgruppe in der SPS, die versucht, nationale Identität durch Klassensolidarität zu ersetzen. Deshalb will er europaweit die kriegsablehnenden Minderheitsflügel der nationalen sozialistischen Parteien vereinen. Ziel: die sozialistischen Parteien auf Antikriegskurs bringen. Die SPS kann er nicht überzeugen, hier die guten Dienste anzubieten. Es überwiegt die Angst, man könnte die deutschen Genossen verärgern. Grimm bekommt jedoch von der Parteileitung die Freiheit, selbst etwas zu versuchen.

Geheimtreffen gegen den Krieg und für den Klassenkampf
Und das tut er. Grimm und seine kleine Schar, unterstützt von italienischen Genoss/innen, berufen für den 5. bis 8. September 1915 mehr als 40 Vertreter diverser linker SP-Flügel zu einer Konferenz nach Zimmerwald ein, einem Bauerndorf südlich von Bern. Die Tagung ist geheim. Denn die Teilnehmenden, besonders diejenigen der Kriegsstaaten, müssen vor Racheakten und Verratsvorwürfen geschützt werden. Deshalb melden sie sich als Vogelkundler an. Und niemand merkt bis zu den ersten Publikationen der Teilnehmenden, wer sich da in Zimmerwald getroffen hat…

Lenin in der Minderheit
Viele Teilnehmer/innen wurden später berühmt, weil sie dann an der Spitze der sozialistischen oder kommunistischen Parteien standen. Allen voran gilt dies für Lenin, der sich damals noch im schweizerischen Exil befand. Er und seine Getreuen wollten den Krieg nutzen, um in gewaltsamer Erhebung die Macht zu ergreifen. Die „linken Zentristen“ rund um Grimm jedoch wollten den Krieg beenden, ihre Losung heisst Klassenkampf, den gewaltsamen Umsturz lehnen sie jedoch ab. Lenin kann sich jedoch in Zimmerwald nicht durchsetzen, ebenso wenig ein Jahr später auf der Nachfolgekonferenz in Kiental, dafür aber 1917 auf dem russischen Terrain selbst. In der 3. Konferenz der Zimmerwalder Bewegung, die im September 1917 in Stockholm stattfand, kam es zum Bruch zwischen der Linken und den Zentristen. Die in Russland siegreichen Bolschewisten riefen bald darauf die dritte kommunistische Internationale aus.

Beginn der linken Spaltung
Soweit eine gedrängte Darstellung. Die Konferenz ist ein wichtiges Ereignis in der Ausdifferenzierung des Sozialismus in die – vereinfacht – drei Blöcke reformerisch, klassenkämpferisch, revolutionär. Aus sowjetischer Sicht steht sie am Anfang einer öffentlich vertretenen Taktik zum Sturz des Regimes und des Aufbaus des Rätekommunismus. Deshalb verwundert denn auch nicht, dass „Zimmerwald“ während Jahrzehnten für geschichtsbewusste Sowjetbürger/innen zu einem pränatalen Ort historischer Identität erhoben wurde. Aus Sicht der (schweizerischen) Sozialdemokratie war und ist „Zimmerwald“ Beleg, dass Weltgeschichte auch mal hierzulande gemacht werden kann. Dann steht Zimmerwald auch für Courage gegen den Krieg, für internationale proletarische Solidarität und gegen nationalistische Enge. Und schliesslich zeigt „Zimmerwald“ das Talent von Robert Grimm und den Beginn einer militanten Ausrichtung der Schweizer Arbeiterbewegung, die nur 3 Jahre später im Generalstreik gipfeln sollte. Bleibt die Gemeinde Zimmerwald, bauern- und gewerbedominiert, wider Willen zu einem Ruhm gekommen, mit dem sie nichts anzufangen wusste. Und so tat sie die Jahrzehnte hindurch vieles, um zu verstecken, dass sie an drei Tagen im Herbst 1915 die linke Weltgeschichte beherbergt hatte.

Reiche Jubiläums-Aktivitäten
Viel Stoff also und viel Leidenschaft, die auch 100 Jahre später noch nicht erloschen ist. Aber angesicht der Tatsache, dass es die UdSSR nicht mehr gibt, auch viel Entdramatisierung für die Konstellation einer 100-Jahrfeier. So macht denn an den Feierlichkeiten diesmal auch die Gemeinde Zimmerwald mit. Im Regionalmuseum Schwarzwasser in Schwarzenburg gibt es seit zwei Monaten eine Ausstellung zur Konferenz. Sie ist – jeweils sonntags von 14.00 bis 17.00 – offen noch bis zum 22.11.2015. Ein Besuch lohnt sich. Die Robert-Grimm-Gesellschaft, unterstützt von weiteren Institutionen, hat für 4./5. September eine Tagung mit hochkarätiger internationaler Besetzung organisiert. Am Nachmittag des 5. Septembers wird dann in Zimmerwald selbst ein Gedenkanlass stattfinden.

Infos zur Ausstellung
Infos zur Tagung

Schwei­ze­ri­scher Ge­werk­schafts­bund (SGB | USS)
Mon­bi­joustras­se 61, Post­fach
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Te­le­fon: 031 377 01 01
Fax: 031 377 01 02
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