Das Tarifsystem böte die Möglichkeit progressive Politik zu machen
Nach den gewonnen Parlamentswahlen im September 2015 geht es für die Syriza-Regierung nun darum, trotz der engen Politikvorgaben durch die europäischen Institutionen Spielräume für eine progressive Reformpolitik auszuloten. Ein wichtiges Politikfeld, in dem sich möglicherweise solche Spielräume eröffnen könnten, bildet die Arbeitsmarktpolitik und hierbei insbesondere die zukünftige Entwicklung des griechischen Tarifvertragssystems.
Der radikale Umbau des griechischen Tarifvertragssystems gehörte von Beginn an zu den Kernforderungen der Troika. Im Rahmen der ersten beiden Memoranden musste sich die griechische Regierung seit 2011 zu weitreichenden Eingriffen ins Tarifrecht verpflichten, die im Ergebnis zu einer radikalen Dezentralisierung der Tarifpolitik und weitgehenden Auflösung von Flächentarifverträgen geführt haben. In dem jetzt vereinbarten dritten Memorandum ist nun vorgesehen, die Entwicklung des griechischen Tarifvertragssystems unter Einbeziehung unabhängiger Experten und internationaler Organisationen zu überprüfen, und auf dieser Grundlage weitere Reformen durchzuführen, die sich an den „besten Praktiken in der EU“ orientieren sollen. Welche das aber sind, ist politisch höchst umstritten.
Die Auseinandersetzung um die Zukunft des griechischen Tarifvertragssystems erhält damit eine internationale Dimension, deren Bedeutung weit über Griechenland hinausreicht.
Veränderungen des griechischen Tarifrechts unter dem Druck der Troika
Seit Anfang der 1990er Jahre verfügte Griechenland über ein umfassendes Tarifvertragssystems mit nationalen, branchen- und berufsbezogenen Flächentarifverträgen, das mit etwa 80 Prozent eine im europäischen Vergleich relativ hohe Tarifbindung aufwies. Die Struktur des griechischen Tarifvertragssystems war dabei streng hierarchisch nach dem Günstigkeitsprinzips gegliedert, wonach Tarifverträge auf der jeweils unteren Ebene nur aus Arbeitnehmersicht günstigere Bedingungen enthalten konnten. Hinzu kam eine weite Verbreitung von Allgemeinverbindlicherklärungen, die der Tatsache Rechnung trugen, dass die griechische Wirtschaft zum allergrößten Teil aus Klein- und Mikrobetrieben besteht.
Die Politik der Troika basierte demgegenüber auf der Vorstellung, dass die wirtschaftliche Krise Griechenlands vor allem durch einen Mangel an preislicher Wettbewerbsfähigkeit bedingt war, die nur durch eine Politik der „internen Abwertung“, also vor allem durch eine Kürzung der Lohnkosten behoben werden konnte. Dementsprechend sollten durch Reformen des griechischen Tarifvertragssystems die nach unten gerichtete Lohnflexibilität für die Unternehmen erhöht werden.
Perspektiven nach dem dritten Memorandum
Der Umbau des griechischen Tarifvertragssystems hat zu einer radikalen Dezentralisierung und weitreichenden Aushöhlung der Tarifvertragsbeziehungen geführt. Im Sinne der Troika war er insofern „erfolgreich“, als dass er wesentlich zur Kürzung der Löhne in Griechenland beigetragen hat, die mit einem durchschnittlichen Reallohnrückgang von 20 Prozent so stark ausgefallen ist wie in keinem anderen europäischen Land. Allerdings hat sich die damit verbundene Hoffnung, mit gestiegener Wettbewerbsfähigkeit zu einem neuen Wirtschaftsaufschwung zu gelangen, nicht erfüllt. Die Lohnkürzungen haben im Gegenteil zu einem drastischen Einbruch der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage geführt und die Krise weiter vorangetrieben.
Vor diesem Hintergrund hat die Syriza-Regierung bereits im April 2015 einen konkreten Gesetzentwurf zur Wiederherstellung des Tarifvertragssystems vorgelegt. Im Kern sah der Gesetzentwurf in einigen zentralen Punkten die Wiederherstellung des alten Tarifvertragsrechts vor, darunter die Wiedereinführung des Günstigkeitsprinzips in der Hierarchie der Tarifverträge, die erneute Anwendung von Allgemeinverbindlicherklärungen sowie die Wiedereinsetzung von Gewerkschaften als einziger legitimierter Vertragspartei auf betrieblicher Ebene. In Unternehmen ohne betriebliche Gewerkschaftsvertretung sollten die Unternehmenstarifverträge durch lokale oder sektorale Gewerkschaftsvertreter vereinbart werden. Die Umsetzung dieses Gesetzentwurfes scheiterte jedoch am Widerstand der Troika, die hierin einen Verstoß gegen die Bestimmungen des zweiten Memorandums sah.
Welches sind die „besten Praktiken“ der EU?
Die Troika hat in der Vergangenheit nicht nur in Griechenland, sondern auch in vielen anderen europäischen Ländern keinen Zweifel daran gelassen, dass für sie ein radikal dezentralisiertes Tarifvertragssystem mit einer eher niedrigen Tarifbindung die „beste Praxis“ ausmacht.
Demgegenüber hat beispielsweise die Generaldirektion Beschäftigung der Europäischen Kommission in ihrem jüngsten „Industrial Relations Report“ ausdrücklich festgestellt, dass diejenigen Länder in Europa mit den entwickeltesten und umfassendsten Arbeits- und Tarifvertragsbeziehungen am besten durch die Krise gekommen sind. Im Rahmen des geplanten Konsultationsprozesses ist es deshalb von nicht geringer Bedeutung, ob die Europäische Kommission hier von der eher neoliberal geprägten Generaldirektion für Wirtschaft und Finanzen oder der Generaldirektion für Beschäftigung repräsentiert sein wird.
Eine wichtige Rolle wird darüber hinaus der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zukommen, deren „Best-Practice-Vorstellung“ in einem entwickelten Tarifvertragssystem mit starken Flächentarifverträgen und einer hohen Tarifbindung besteht. In Bezug auf Griechenland hat die ILO bereits mehrfach deutlich gemacht, dass die durch die Troika erzwungenen Veränderungen des griechischen Tarifrechts in bedenklicher Weise zu einer Schwächung der Tarifvertragsbeziehungen geführt haben.
Die kommenden Auseinandersetzungen um die Zukunft des griechischen Tarifvertragssystems versprechen also äußerst kontrovers zu werden. Mit der Beteiligung der Institutionen auf der einen und der ILO auf der anderen Seite ist dabei sichergestellt, dass die Auseinandersetzung keine rein innergriechische ist, sondern auch auf andere Länder ausstrahlen wird. Vor diesem Hintergrund sind die europäischen Gewerkschaften gut beraten, sich in diese Auseinandersetzung einzumischen und die griechische Seite bei ihrem Ansatz für einen Wiederaufbau des Tarifvertragssystems zu unterstützen.
Veröffentlicht am 12 Oktober 2015 in Internationale Politik und Gesellschaft.
Dieser Text basiert auf einer aktuellen Studie der FES. Dr. Thorsten Schulten arbeitet seit 1997 als Wissenschaftler am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) in der Hans Böckler-Stiftung. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der international vergleichenden Lohn- und Tarifpolitik.