Jenseits ausgetretener Pfade (Karin Pape, 2013)

Der folgende Artikel ist eine Debatte über den Artikel von Klaus Dörre in der Mitbestimmung 1 + 2/2013, “System der Dauertests”. Eine gekürzte Version erschien in der “Mifestimmung” August 2013 mit dem Titel „Jenseits ausgetretener Pfade“.

Klaus Dörre spricht in seinem Artikel ein zentrales Problem der Veränderung des Arbeitsmarktes, (was nicht nur für Deutschland gilt) an, das er die „Transformation des Arbeitsmarktes in ein Wettkampfsystem“ nennt. Mir scheint, dass wir alle das Ausmaß dieser strukturellen und auf Dauer angelegten Veränderung des Arbeitsmarktes unterschätzen, insbesondere dessen Bedeutung für die Gewerkschaften und damit letztlich für die Interessenvertretung von arbeitenden Menschen.

Während für den globalen Süden schon immer und leider immer noch gilt: „informal is normal“, ist der Angriff auf einigermaßen abgesicherte Arbeitsverhältnisse im globalen Norden zwar nicht neu, wird aber jetzt allgemein zur Kenntnis genommen. Die Antwort der internationalen Gewerkschaftsbewegung: Organisationsfreiheit und Kollektivverhandlungen ist zwar richtig, garantiert aber noch lange nicht faire Arbeitsbedingungen, inkl. sozialer Sicherung, wie auch in Deutschland schmerzlich erfahren wird. Dafür sind zusätzlich politische Lösungen notwendig, insbesondere hinsichtlich Arbeitsgesetzen und sozialer Sicherung. Gerade gesetzliche Rahmenbedingungen sind in den letzten Jahrzehnten systematisch zuungunsten arbeitender Menschen verändert worden („Deregulierung“) und die Gewerkschaften können mit den Mitteln der Tarifpolitik allein unmöglich diese Veränderungen korrigieren.

Der „Doppelcharakter“ der Gewerkschaften bestand immer darin, Ordnungsmacht und Gegenmacht zu sein. Für beide Funktionen, aber insbesondere für letztere, ist Grundvoraussetzung, dass die meisten arbeitenden Menschen sich in den Gewerkschaften organisieren, damit die Verhandlungs- und Durchseztungsmacht gestärkt wird. Gerade die gegenteilige Entwicklung ist aber in den vergangenen Jahren eingetreten. Warum ist die Mitgliederbasis immer mehr geschrumpft, wo sich doch die Verhältnisse immer mehr verschlechtert haben? Warum ist es den Gewerkschaften nicht gelungen massenhaft gerade die prekären Beschäftigten zu organisieren? Oder anders gefragt: warum organisieren sich die prekär Beschäftigten so wenig in Gewerkschaften?

Dörre beschreibt, dass „Prekarität …mehr (ist) als die Ausbreitung unsicherer Arbeits- und Lebensverhältnisse. Es handelt sich um ein Macht- und Kontrollsystem, das auch die Festangestellten diszipliniert.“ Und weiter: „In diesem Sektor des Arbeitmarktes wird häufig nicht mehr Arbeitskraft gegen einen halbwegs fairen Lohnm sonder Repression gegen Angst getauscht.“ Ein „System permanenter Bewährungsproben“.

Schon Kalecki bemerkte, dass die Arbeitgeber aus politischen Gründen gegen Vollbeschäftigung sind, da drohende Arbeitslosigkeit ein gutes Disziplinierungsmittel ist. Die moderne Form dieses Systems ist geringe Arbeitslosigkeit, aber eine hohe Rate an unsicheren Arbeitsverhältnissen. Zusätzlich zu dem politischen Grund, gibt es handfeste wirtschaftliche Gründe für Arbeitgeber z.B. bevorzugt Minijober/innen einzustellen: die Differenz zum Hartz IV-Satz zahlt der Staat: schöne, neue Unternehmerwelt.

Hinzu kommt, dass die Re-Organisation vieler Betriebe zu sehr viel kleineren Betriebsgrößen geführt hat, inklusive einem wachsenden Anteil von Soloselbständigen. Für viele dieser Soloselbständigen hat sich an ihrem eigentlichen Arbeitsplatz nichts verändert (z.B. selbständige LKW-Fahrer), allerdings werden jetzt alle Risiken auf sie abgwälzt, währen die wirtschaftliche Abhängigkeit bestehen bleibt. Das Finanzamt hat für diese Gruppe den treffenderen Begriff „Scheinselbständige“. Aber auch für andere neue Selbständige gilt, dass sie nicht in den Genuss eines gut regulierten Sektors kommen, wie z.B. Anwälte oder niedergelassene Ärzte, sondern auf all die selbständigen Übersetzer/innen, Software-Entwickler und andere Dienstleister/innen wird das unternehmerische Risiko abgewälzt, ohne entsprechnden Risikozuschlag (Gewinn), der ihnen ein auf gewisse Dauer ein gesichertes Einkommen garantiert.

Diese Entwicklung geht aber keineswegs einher mit Machtverlust multi-national operierender Unernehmen – ganz im Gegenteil. Multinationale Konzerne können dank moderner Kommunikationstechnologien ein globales Netz von Sub-Unternehmen managen mit angeschlossenen, scheinbar unanbhängigen, aber de facto abhängigen Zulieferstrukturen.

Das bedeutet für Gewerkschaften, dass die klassischen Formen des „organizing“ immer schwieriger werden bzw. nicht mehr anzuwenden sind. Der oder die, wie auch immer outgesourcete Arbeitnehmer/in und die Gewerkschaften begegnen sich nicht mehr. Mit anderen Worten, der Arbeitsplatz als Ort der Rekrutierung für Gewerkschaften gewinnt weniger an Bedeutung oder wird gar bedeutungslos. Soloselbständige stehen oftmals keinem klassischen Arbeitgeber gegenüber, sondern einem „Kunden“ –der ihnen freilich oft die Bedingungen diktiert. Hier gilt auch nicht das Arbeitsrecht, sondern das kommerzielle Recht, was z.B. „Preisabsprachen“, wie beispielsweise eine Verständigung über Lohn- bzw. Einkommensuntergrenzen, als Monopolbildung untersagt.

Das führt dazu, dass immer mehr Gruppen als „unorganisierbar“ identifiziert werden und Gewerkschaften in eine Abwärtsspirale geraten: weniger Mitglieder bedeutet weniger Resourcen und weniger Resourcen führt dazu, dass noch viel weniger Zeit investiert werden kann für alle Aktivitäten, die sich jenseits des „klassischen Gewerkschaftsgeschäfts“ bewegen: Tarifverhandlungen und Organisationsmacht in bestehenden Strukturen halten bzw. stärken.

Wie kommen Gewerkschaften aus dem Teufelskreis heraus? Dörre sagt , dass Gewerkschaften sich wieder stärker als „soziale Bewegung“ begreifen müssen und „im Bündnis mit anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren neue Machtresourcen außerhalb der Betriebe und Unternehmen erschließen, um im prekären Sektor handlungs- und konfliktfähig zu werden“

Es gibt ein konkretes Beispiel eines Sektors, in dem dies in der jüngsten Vergangenheit gelungen ist – und das sind die Hausangestellten. Einem breiten Bündnis von Gewerkschaftsorganisationen auf verschiedenen Ebenen (Branchengewerkschaften, Gewerkschaftsbünde, national, regional, international), Nicht-Regierungsorganisationen, unterstützende Regierungsvertreter/innen, verschiedene Vetreter/innen der internationalen Arbeitsorganisation, manchmal sogar Arbeitgebervertreter/innen und nicht zuletzte die organisierten Hausangestellten selbst, ist es gelungen, dass die internationale Arbeitsorganisation 2011 das Übereinkommen 189 zum Schutze von Hausangestellten verabschiedet hat.Dies konnte m.E. in diesr Form nur erreicht werden, weil die organisierten Hausangestellten selbst von Anfang an an dem Prozess beteiligt waren.

Es gab einige Hindernisse zu überwinden, insbesondere innerhalb von einigen Gewerkschafts-organisationen, damit der Forderung der Hausangestellten „wir wollen für uns selber sprechen“ entsprochen werden konnte. Durch teilweise harte Überzeugungsarbeit konnte erreicht werden, dass Vertreterinnen von Hausangestellten-Gewerkschaften als gleichberechtigte Delegierte, zusammen mit Arbeitgeber- und Regierungsvertretern am Verhandlungstisch saßen. Ein für die ILO ungewöhnlicher Vorgang, da hier normalerweise nur die „Spezialisten“ aus den jeweiligen Lagern zusammen kommen.
Jetzt muss nicht nur erreicht werden, dass dieses Übereinkommen auf nationaler Ebene ratifiziert wird – und in Deutschland stehen die Chancen gut – sondern dass es in nationales Recht umgesetzt und dann angewendet wird. In Deutschland, so wie in den meisten europäischen Ländern, reicht die bestehende Gesetzeslage aus. Auch hat die Gewerkschaft NGG einen Tarifvertrag mit dem Deutschen Verband der Haushaltsführenden – doch beide Organisationen haben in dem Sektor wenige Mitglieder und deshalb sind die meisten Hausangestellten in Deutschland de facto rechtlos.

Erfahrungen aus anderen europäischen Ländern haben gezeigt, dass Gewerkschaften immer dann Hausangestellte organisiert haben, wenn sie bereits als Gruppe(n) organisiert waren – oft in MigrantInnenorganisationen, aber auch in Kirchengemeinden oder anderen unterstützenden NGOs – denn auch für Hausangestellte gilt: man kann sie nicht am Arbeitsplatz organisieren.

Oft gibt es allerdings große gegenseitige Mißverständnisse und Erwartungshaltungen gegenüber den Gewerkschaften, die diese nicht erfüllen können. Darum haben z.B. Hausangestellte in den Niederlanden nach einem ersten gescheiterten Versuch, beim zweiten Mal einen Vertrag mit der Gewerkschaft FNV-Bondgenoten vereinbart, in dem nach einem intensiven Diskussionsprozess nieder gelegt wurde, was Gewerkschaften sich verpflichten zu tun.

Gewerkschaften sind gut für kollektive Lösungen und gut darin politische Forderungen zu transportieren. Hausangestellte haben viele andere Probleme, die andere Insitutionen möglicherweise besser helfen können zu lösen. Schon deshalb sind breite Bündnisse hier von Nöten und Strukturen innerhalb von Gewerkschaften die sich jenseits ausgetretener Pfade bewegen.

So, kann es z.B. schon sehr hilfreich sein, wenn Gewerkschaftshäuser am Wochenende zugänglich sind, so dass sich Hausangestellte treffen können. Dort könnten z.B. auch Sprachkurse für Migrantinnen stattfinden. Bestehende Schulungsveranstaltungen von Gewerkschaften könnten für Hausangestellte geöffnet werden. Allerdings, außer eine Gruppe in Berlin („RESPECT“), sind uns derzeit keine informellen Netzwerke von Hausangestellten in Deutschland bekannt für die solche Angebote interessant wären.
Erfahrungen in Europa haben auch gezeigt, dass es gerade Migrantinnen sind, die sich in den Selbsthilfegruppen organisieren. Da reichen arbeitsrechtliche Lösungen oft nicht aus.

Aufenthaltsrechtliche- und andere Gesetze Migrant/innen betreffend verhindern, dass Arbeitsrechte in Anspruch genommen werden können. Wenn Dörre bemerkt, dass „Gewerkschaften (…) als potenzielle Träger alternativer Gesellschafts-konzeptionen….kaum wahrgenommen (werden)“ , so ist in dem genannten Zusammenhang ein konkretes Feld, wo es hilfreich ist, wenn Gewerkschaften das politische Agenda besetzen.

Von meinen Erfahrungen im europäischen Kontext mit informell Beschäftigten kann ich sagen, dass Gewerkschaften für viele arbeitenden Menschen, die sich außerhalb des Normal-arbeitsverhältnisses befinden, „schwierige“ Organisationen sind. Das liegt z.T. daran, dass die Betroffenen Gewerkschaften nicht in erster Linie als Mitgliedsorganisationen verstehen, sondern als quasi staatliche Insitutionen begreifen, die dafür „zuständig“ sind Ungerechtigkeiten in der Arbeitswelt zu beheben. Andererseits sind bestehende Gewerkschaftsstrukturen oft nicht einladend sich bei den Gewerkschften zu organsieren. Gerade was marginalisierte Gruppen anbelangt, so fehlt bei hauptamtlichen Gewerkschaftsfunktionären oft das Verständnis für die konkrete Lebens- und Arbeitssituation. Routine, Überforderung, Mangel an Resourcen paart sich mit der Unkenntnis welche Bedürfnisse diese Gruppen haben und wie Gewerkschaften dazu beitragen können sie zu organisieren. Denn, dass das notwenig ist, ist mittlerweile unbestritten. Die Sektoren, die sich außerhalb regulierter Arbeitsverhältnisse befinden werden immer mehr und setzen auch die unter Druck, die noch zu akzeptablen Löhnen und Bedingungen arbeiten.
Eine vermehrte und systematische Vernetzung, auch grenzüberschreitend, all derer, die bereits Erfahrungen in dem Bereich der Organisation der „Unorganisierbaren“ gemacht haben, ist darum dringend geboten, damit ein gegenseitiger Erfahrungsaustausch organisiert werden kann – oder um mit Dörre zu sprechen: damit „Organisationslernen“ stattfinden kann. Diese Plattformen können dann dazu genutzt werden Veränderungsstrategien zu entwicklen, die jenseits notwendiger allgemeiner Debatten neue Politiken auch in Organisationshandeln umsetzen.


Karin Pape ist Europa-Koordinatorin, Women in Informal Employment: Globalizing and Organizing (WIEGO) und International Domestic Workers Network (IDWN)