Gewerkschaften und Euro-Krise (Vasco Pedrina, 2011)

Zwischen nationaler Rückzugstrategie und europäischer Gegenoffensive
Mit den neoliberalen Rezepten, die von der EU-Behörde und den meisten EU-Mitgliedstaaten angewendet werden, um die Euro-Krise in den Griff zu bekommen, wächst die Gefahr, nicht nur das Projekt „soziales Europa“ zu untergraben, sondern den bisherigen europäischen Integrationsprozess insgesamt auf‘s Spiel zu setzen. Davon bleibt die Schweiz nicht verschont, wie die Folgen des überbewerteten Schweizer Frankens zeigen. Es ist ein Teufelkreis: Die sukzessiv immer rigideren Sparprogramme als Gegenleistung für Hilfspakete des „EU/IMF-Rettungsschirms“ im Rahmen des „Paktes für den Euro“ führen zu einer noch nie dagewesenen sozialen Härte, ohne dass die Ursache der exzessiven Haushaltsdefizite und öffentlichen Schuldenlast behoben werden kann, ganz im Gegenteil. Es ist wie K. Busch und D. Hirschel prognostiziert haben: „Die strikteste Haushaltsdisziplin verpufft, wenn die Volkswirtschaft nicht wächst. Folglich wird ein verschärfter Stabilitätspakt sich erneut als Irrweg erweisen“.1)

Sozialabbau und Angriff auf die ArbeitnehmerInnenrechte
Die nationalen Sparprogramme vor allem in den sog. PIIGS-Staaten (Portugal, Irland, Italien, Griechenland und Spanien) sowie in mehreren Mittel- und Osteuropäischen Ländern, wie Rumänien, Litauen oder Ungarn haben ein präzedenzloses Ausmass angenommen: Streichung von Hunderttausenden von Arbeitsplätzen, insbesondere in den öffentlichen Diensten; starke Kürzung der Löhne im öffentlichen Dienst mit entsprechender Signalwirkung auf den privaten Sektor, Kürzung der aktuell schon tiefen gesetzlichen Mindestlöhne; Senkung der Renten und Erhöhung des Rentenalters, Kürzung der „sozialen Amortisatoren“; Abbau beim „Service public“ und bei den öffentlichen Infrastrukturen. Weniger bekannt sind die Angriffe auf die ArbeitnehmerInnenrechte, die unter gängigen Begriffen wie „Arbeitmarktreformen“ oder „Arbeitsflexibilisierung“ laufen. Werfen wir einen Blick auf Griechenland, das schon beim 5. Sparprogramm seit dem Ausbruch der Krise Anfang 2010 angelangt ist und das, wie der Präsident der Republik K. Papoulias treffend sagte, Opfer vom „Fass ohne Boden der Forderungen der Troïka“ (gemeint ist die Delegation vob EU-IMF-EZB)2) geworden ist. Die griechischen Gewerkschaften haben nicht nur gegen eine Arbeitslosigkeit zu kämpfen, die sich innerhalb von 2 Jahren mehr als verdoppelt hat (22%; Jugendarbeitslosigkeit 42,5%!); sondern sie sind auch noch mit der Tatsache konfrontiert, dass in den letzten 12 Monaten mehr als 100 Gesetzesänderungen in verschiedenen sozialen Vorlagen durchgesetzt wurden. Unter dem Deckmantel der notwendigen „strukturellen Anpassungen“ des Arbeitsmarktes sind Massnahmen beschlossen worden, welche die Autonomie der Sozialpartner, die direkte staatliche Einflussnahme auf die Lohnpolitik und die Dezentralisierung der Tarifpolitik betreffen. Die Troïka hatte schon im Februar 2011 durchgesetzt, dass die Branchen-GAV suspendiert 3) und die Türe für Sondervereinbarungen auf Betriebsebene geöffnet werden, welche eine Verschlechterung der Löhne und Arbeitsbedingungen zur Folge hatte. Ausserdem wurde ein neuer antigewerkschaftlicher Artikel gesetzlich eingeführt, der den Unternehmungen mit 10 bis 40 Beschäftigen, d.h. der Mehrheit der Betriebe, erlaubt, Betriebsvereinbarungen mit internen „Vereinigungen von Beschäftigten“ abzuschliessen. Nachdem die kürzlich gestellte neue Forderung der Troïka zur Abschaffung des – in der Verfassung verankerten – interprofessionellen GAV‘s zu einer regelrechten sozialen Revolte geführt hat, haben sich Regierung Papandreous und Troïka geeinigt, die Branchen–GAV‘s (die 75% der Beschäftigten im privaten Sektor abdecken) nicht mehr als obligatorisch zu erklären. Auch der Mechanismus der Allgemeinverbindlichkeit der GAV‘s wurde abgeschafft. Der Angriff auf die Branchen-GAV‘s hat schon Anfang 2011 begonnen und wird so beschleunigt fortgesetzt.

Was die ArbeitnehmerInnenrechte in Spanien anbelangt, sind vor allem zwei Gesetzesänderungen, welche von der Troïka diktiert wurden, von folgenschwerer Bedeutung: einerseits eine „Öffnungsklausel“ beim GAV-System, welche den Unternehmungen erlaubt, Vereinbarungen auf Betriebsebene abzuschliessen, welche unter die Bedingungen des Branchen-GAV gehen dürfen; andererseits wurde das System der „delegados sindical“ stark geschwächt: in mehreren Regionen ist der Erosionsprozess dieser Arbeitnehmervertretung, die besonders wichtig für die sozialen Kräfteverhältnisse in einem Land mit einem relativ schwachen Organisierungsgrad ist, voll im Gange.

In Italien hatte noch die Regierung Berlusconi unter dem zunehmenden Druck der Finanzmärkte sich in einem Brief an die EU verpflichtet, rasch eine erneute drastische Sparrunde einzuleiten. Neben einer neuen Entlassungswelle im öffentlichen Sektor sieht diese u.a. vor, den individuellen und kollektiven Kündigungsschutz sowohl im öffentlichen wie im privaten Sektor stark zu flexibilisieren ( der sogenannte „licenziamento facile“) sowie weitere Massnahmen zur Schwächung der normalen Arbeitsverhältnisse und im Gegenzug Anreize zur Förderung von prekären Arbeitsverhältnissen, u.a. der Arbeit auf Abruf und der Teilzeitarbeit vorzukehren. Mit dem Austritt aus dem Arbeitgeberverband „Confindustria“ und dem Abschluss eines Firmenvertrags mit zwei der drei Gewerkschaftsbünde (UIL und CISL) hat ausserdem die FIAT von CEO Marchione den Weg der Dezentralisierung der Tarifpolitik auch in Italien gemäss EU/EZB-Anforderungen geebnet; und dies trotz dem erbitterten Widerstand des kämpferischen Teils derGewerkschafts-bewegung, vor allem der CGIL.

In Rumänien haben Regierung und Parlament vor ein paar Monaten zwei wichtige soziale Gesetze geändert: das Arbeitsgesetz und das Gesetz zum sozialen Dialog; dies vor allem unter dem Druck des „Rat der ausländischen Anleger“ und der „Amerikanischen Handelskammer“, aber auch der EU. Der makroökonomische Dialog wurde weitgehend liquidiert. Von den bisherigen drei Ebenen der Tarifpolitik wird die erste Ebene, d.h. der nationale interprofessionelle GAV, kurzerhand abgeschafft. Auf Branchenebene dann können GAV‘s ab dem 1.1.2012 nur ausgehandelt werden, wenn mehr als 51% der Arbeitgeber in einem Arbeitgeberverband organisiert sind (die Anzahl der organisierten Arbeitnehmenden zählt nicht), was in Rumänien praktisch nirgends der Fall ist. Auf der dritten Ebene bestehen neu folgende Hindernisse für die Gewerkschaften: Einerseits können die einzelnen Unternehmungen mit internen unternehmungsabhängigen Personalvertretungen GAV‘s abschliessen; anderseits sind die Gewerkschaften nur tariffähig, wenn sie im Betrieb – wie in den USA – mehr als 51% der Beschäftigten organisieren, was selten vorkommt. Vor diesem Hintergrund ist eine weitgehende Liquidation der GAV‘s absehbar. Damit ist auch das Überleben der Gewerkschaften in manchen Branchen in Frage gestellt.

Nur in den wenigen Branchen, die wie der Bausektor ein System von paritätischen „Sozialkassen“ (paritätischen Fonds) kennen, können die Gewerkschaften hoffen, noch weiterhin eine gewisse politische Bedeutung beizubehalten.

Diese „Krankheit“, um mit den Worten eines rumänischen Gewerkschaftspräsidenten zu reden, verbreitet sich derzeit in mehreren Staaten von Mittel- und Ost-Europa, wie der Slowakei, Tschechien, den baltischen Staaten. Und in Ungarn ist trotz der laufenden Proteste die rechtsnationalistische Regierung Orban sogar daran, die rechtsstaatlichen Fundamente der Demokratie zu unterminieren. Nach dem Mediengesetz steht zurzeit das Arbeitsrecht unter Beschuss. Die soziale Sicherheit von ArbeitnehmerInnen sowie die Anerkennung und die Verhandlungsfähigkeit von Gewerkschaften bzw. die Koalitionsfreiheit sollen massiv beschnitten werden, was im krassen Widerspruch zu den europäischen sozialen Rechten steht, die in den Lissabonner Verträgen verankert sind. Diese Beispiele zeigen hinreichend, wie dramatisch die Lage für die europäische Gewerkschaftsbewegung ist, vor allem in den am meisten von der Krise betroffenen Ländern.

Die Neuen Regeln der „economic governance“ des Euro-Paktes als antisoziale Dampfwalze
Der Hebel für den massiven und systematischen Angriff auf Löhne, Arbeitsbedingungen und ArbeitnehmerInnenrechte bietet das sogenannte „Six Pack“, 6 Verordnungen und Richtlinien, auf welchen die neue „economic governance“ (EU-Wirtschaftsregierung) basieren wird. Im Wesentlichen geht es darin um eine stärkere Überwachung der nationalen Wirtschafts- und Budgetpläne, strengere Defizitregeln des Stabilitätspaktes sowie den Abbau von Ungleichgewichten bei der Wettbewerbsfähigkeit. Und es werden stärkere Strafmassnahmen gegen Mitgliedstaaten ausgesprochen, welche die Vorgaben nicht einhalten. Aus gewerkschaftlicher Sicht besonders schwer wiegt das Verfahren zur Bekämpfung der makroökonomischen Ungleichgewichte (Excessive Imbalances Procedure). Das Auseinanderdriften der Leistungsbilanzsalden zwischen extrem exportorientierten Ländern wie Deutschland oder Finnland und „Defizitländern“ wie die PSIIG-Staaten wird nicht bekämpft, indem Deutschland die langjährige zu restriktive Lohnpolitik und den Sozialabbau (Agenda 2010) aufgibt, sondern indem der deutsche Weg den Defizitländern extrem verschärft aufoktroyiert wird, obschon in keinem dieser Länder „die Löhne stärker als die Marge aus Inflationsrate und Produktivitätswachstum gestiegen sind. Die Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit der Südländer soll durch eine Anpassung der Lohn- und Produktivitätsentwicklung erreicht werden. Steigende Lohnstückkosten bedeuten danach einen Verlust an Wettbewerbsfähigkeit, also sollen in den betreffenden Ländern die Löhne gesenkt werden oder nicht mehr steigen“ 4). Ausserdem werden Vorgaben für weitere Arbeitsmarkt- und Steuerreformen definiert, um den Faktor Arbeit zu entlasten, das Pensionsalter der Lebenserwartung „anzupassen“ und Vorruhestandregelungen einzuschränken.

Das einzige was der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) in den parlamentarischen Verhandlungen zu diesem „Six Pack“ durchsetzen konnte, war die Verankerung der bis vor kurzem geltenden Regeln der Einhaltung der Tarifautonomie der Sozialpartner und der durch die EU zu respektierende nationale Praxis bezüglich Lohnbildung. Leider zeigt die politische Entwicklung der letzen Monate in Ländern wie Griechenland, Spanien, Portugal oder Italien, dass die EU und ihre Troïka solche hehren Prinzipien – allen Beteuerungen zum Trotz – hemmungslos mit Füssen treten.

Gewerkschaftsbewegung: zwischen Lähmung und Befreiungsschlägen
In Anbetracht der massiven und koordinierten Angriffe gegen die Arbeitnehmenden und RentnerInnen und ihrer Rechte kann man sich fragen, wieso es bis jetzt nicht möglich war, eine machtvolle europäische gewerkschaftliche Protestbewegung auf die Beine zu stellen. Die Anzahl der Demonstrationen, Branchen- und Generalstreiks hat zwar in zahlreichen Ländern stark zugenommen; aber gerade wegen der zentralen europäischen Steuerung der Angriffe war ihre Wirksamkeit begrenzt.

Mit vier europäischen Aktionstagen innerhalb von 2 Jahren hat der EGB parallel dazu auch versucht Gegensteuer zu geben; aber wesentlich mehr als Symbolcharakter haben diese Aktionstage nicht gehabt. Mehr schien nicht drin zu liegen, dies auch deshalb,weil die wegen der Krise geschwächten Gewerkschaften sich ganz auf den Widerstand im nationalen Rahmen konzentriert haben. Diese Einschätzung der Lage wird im Rahmen des EGB allgemein geteilt.

Aber diese Erklärung greift zu kurz. Werfen wir deshalb einen Blick auf die Debatten zum wirtschaftspolitischen Kurs der EGB sowie jene zur Bewegungsführung, um sich ein besseres Bild der Lage und der Handlungsspielräume in dieser ganz schwierigen Phase der Krise zu machen. Es stossen, vereinfacht gesagt, zwei Strömungen aufeinander. Die eine plädiert für eine Strategie der „Renationalisierung der Politik“. Diese Strömung der „Rückzugstrategie“ vertritt die These, dass sich die EU auf dem perspektivlosen Weg des ultraliberalen und antisozialen Kurses befindet. Die linken Exponenten solcher Positionen finden sich de facto im gleichen Lager wie die Konservativen, die wie ihre Basis für nationale Abschottung plädieren. Die andere Strömung vertritt eine „Vorwärtsstrategie“, die auf die Europäisierung der sozialen Kämpfe setzt und den einzigen Ausweg aus der Krise in einem qualitativen und quantitativen Sprung in der eigenen Politik und der Mobilisierung in Europa sieht.

Diese Debatten decken auch auf, wie es um die gelebte Solidarität in den eigenen Reihen steht. Dies illustriert die laufende Auseinandersetzung zur gewerkschaftlichen Forderung der Ausgabe von Eurobonds, die bis jetzt in der EU nicht mehrheitsfähig ist. Die Idee, die Euro-Zone dank Transfers zugunsten des europäischen Budgets, dank Eurobonds und Mittel aus den strukturellen Fonds wieder ins Gleichgewicht zu bringen, ist eben in den reichen Ländern Europas nicht populär. Zur Erinnerung: im Rahmen seines alternativen Wirtschaftsprogramms plädiert der EGB für die Umsetzung eines sozialen und ökologischen „New Deal“, der u.a. die Einführung von „Eurobonds“ beinhaltet, um der Finanzspekulation gegen einzelne Länder ein Ende zu setzen und – zusammen mit einer Finanztransaktionssteuer – den Weg für eine Investitionsoffensive öffnen würde.

Eurobonds : ja oder nein?
Obwohl der EGB-Kongress von Athen (Mai 2011) dieses Programm verabschiedet hat, bleibt die Frage der Einführung von Eurobonds höchst umstritten. Die Nordischen Gewerkschaften bleiben stramm dagegen. Sie argumentieren, dass die Konsequenzen eines solchen Schritts bisher nicht genügend analysiert wurden. Sie befürchten, dass mit den Eurobonds der Druck in Richtung einer gemeinsamen Fiskal- und Wirtschaftspolitik noch zunehmen würde; und dies mit der negativen Auswirkung, dass sich die EU in die Tarif- und Lohnpolitik der einzelnen Ländern einmischen würde, was ihr „Nordisches Sozialmodell“ in Frage stellen würde. Die Befürchtung ist nicht ganz unbegründet. Das Problem ist nur, dass die EU schon heute die Tarifautonomie und die nationale Autonomie bei der Lohnfindung missachtet. Auch befürchten unsere Nordischen KollegInnen, dass die ansatzweise „Vergemeinschaftung“ der Schulden via Eurobonds den Druck auf die Haushaltsdisziplin seitens der in Schwierigkeiten geratenen Länder reduzieren würde. Die Gewerkschaften aus den Südländern plädieren mit Leidenschaft zugunsten der raschen Ausgabe von Eurobonds. Aus ihrer Sicht handelt es sich nicht nur um die nötige Solidarität der „Überschussländer“ mit den Ländern mit negativen Leistungsbilanzsalden. Der wirtschaftliche Zusammenbruch im Süden Europas hätte unvermeidlich sehr negative Auswirkungen auf die Mittel- und Nord-Europäischen Länder. Die Eurobonds sollten ihrer Ansicht nach ein Schlüsselelement einer Strategie sein zur Wiederankurbelung des europäischen Integrationsprozesses und des „sozialen Europa“.

In dieser Debatte zielen die Deutschen Gewerkschaften einen Mittelweg an: Einerseits, anerkennen sie, dass es ohne Eurobonds nicht möglich sein wird, die Euro-Zone aus der Sackgasse zu führen, dh. ohne Möglichkeit für die Südländer und die anderen „Defizitländer“ sich dank Anleihen mit anständigen Zinssätzen zu finanzieren. Andererseits stellen sie die Frage: Was wird passieren, wenn die Finanzmärkte nicht mehr nur gegen das eine oder andere Land spekulieren, sondern die Euro-Zone insgesamt angreifen? In diesem Fall hätten die Europäer keine Rückzugsposition mehr. Aus diesem Grund sind sie der Ansicht, dass diese Frage nicht ideologisiert werden soll, umso mehr, als Eurobonds – in irgendwelcher Form auch immer – ansatzweise schon heute existieren und Eurobonds alleine auch nicht alle sich stellenden Probleme lösen können. Diese lauwarme Unterstützung für die Eurobonds und umso mehr die Opposition der Nordischen Gewerkschaften zeigen, wie der starke Druck in den eigenen Reihen enge Grenzen der Solidarität setzt..

Konsequenter Kampf gegen Lohndumping oder Suche nach Rückzugspositionen?
Ein weiteres Beispiel, welches das Dilemma aufzeigt, in dem die europäische Gewerkschaftsbewegung steckt und ihre Handlungsfähigkeit einschränkt, ist die laufende Auseinandersetzung über eine bessere Koordination unter Gewerkschaften der Tarifpolitik und einer europäischen Mindestlohnpolitik. Die einen argumentieren, dass auf dem Weg zu einer gemeinsamen Währungs-, Fiskal- und Wirtschaftspolitik und in Anbetracht des europäischen Drucks auf Löhne und Arbeitsverhältnisse eine gemeinsame Strategie und Koordination unabdingbar sind 6). Die anderen, die nicht an die Möglichkeit eines Kurswechsels der Politik in der EU glauben und ihre nationalen Modelle in Gefahr sehen, schrecken davor zurück und stehen auf der Bremse.

Aber es gibt auch eine andere Konfliktlinie. Ein Teil der EGB-Führung (mit ihrem Forschungsinstitut ETUI) vertritt die Position, dass wenn der EGB sich stark für Eurobonds und für einen strengeren „reglementarischen gemeinsamen Rahmen“ einsetzt – d.h. de facto für eine EU-Wirtschaftsregierung -, dann eine Einflussnahme der EU in die Lohnpolitik in Kauf zu nehmen sei. In Anbetracht der äusserst schwierigen Zeiten soll er die konsequente Haltung im Kampf gegen Lohndumping und Lohndeflation abgeben und Hand für Kompromisse bieten, um die Ungleichgewichte in den Leistungsbilanzsalden zu korrigieren: mit „wage bonus“ (Lohn-Bonus) in den sehr wettbewerbsfähigen Ländern wie Deutschland, und mit „wage malus“ (Lohn-Malus) in den defizitären Ländern 7). Gegen einen solchen Strategiewechsel, der die Türe für noch mehr Lohndumping und noch mehr Lohndeflation in Europa öffnen würde, hat der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) beim EGB protestiert.

Man muss sich keine Illusionen machen: die neuen Regeln der „economic governance“ – oder „Six Pack“ genannt – werden einen Einfluss auf die vertragspartnerschaftlichen Beziehungen in den einzelnen Ländern haben, und dieser wird unter den heutigen politischen Verhältnissen in Richtung „Lohnwettbewerb nach unten“ gehen. Umso mehr stellt sich die Notwendigkeit einer koordinierten europäischen Politik seitens der Gewerkschaften. Folgende Optionen stehen zur Diskussion:

– Eine deutlich verstärkte Koordination der Tarifpolitik und der Lohnpolitik: die bisherigen Erfahrungen diesbezüglich haben bescheidene Resultate vorzuweisen. Die Kenner der Materie wissen, dass es schon schwierig ist, eine wirksame Koordination solcher Politiken im nationalen Rahmen zustande zu bringen. Aber ohne entsprechende Schritte nach vorne in den nächsten Jahren auch auf europäischer Ebene ist es schwer vorstellbar, dass die negative Spirale, welche die EU-Behörde schon voll in Gang gesetzt hat, gestoppt werden kann.
– Forderung von nationalen Rahmenvereinbarungen mit dem Ziel die nationalen GAV-Systeme, das Lohniveau und die Tarifautonomie gegen EU-Angriffe zu verteidigen.
– Eine europäische Mindestlohnpolitik:, die eine wirksame Form der Lohnkoordination in Europa werden könnte. Der erste Vorstoss wurde vom SGB zusammen mit dem DGB schon am EGB-Kongress 2006 in Sevilla unternommen. Trotz beträchtlicher Widerstände stellt sich mit noch grösserer Dringlichkeit erneut die Notwendigkeit einer solchen Politik, gerade um Lohndumping und Lohndeflation auf einem immer mehr zersplitterten und prekarisierten Arbeitsmarkt zu bekämpfen. Der Weg dazu wäre die Fixierung einer gewissen Norm für jedes Land und ein Prozess der Harmonisierung nach oben zu einem bestimmten Prozentsatz des Durchschnitt- oder Medianlohn (z.B. 60%).

Gegen eine solche Politik haben bis jetzt insbesondere die Nordischen und die Italienischen Gewerkschaften erfolgreich Obstruktion betrieben. Die eine weil sie keine Einmischung in ihr heiliges „Nordisches Sozialmodell“ dulden; die Italiener weil sie – bis jetzt – von einem Gerichtsurteil profitieren, das festhält, dass die Mindestlöhne in der jeweiligen Branchen-GAV allgemein gültig sind. Beide befürchten wie die Pest gesetzliche Mindestlöhne und eine eventuelle Einflussnahme der EU. Verdrängt wird damit, dass durch den Krisenprozess wie auch aufgrund mehrerer Gerichtsurteile von 2008 des Europäischen Gerichtshofes – wie der Fall Laval 8) auch diese Länder brutal eingeholt werden.

Bewegungsführung: wohin?
Die kontroversen Auseinandersetzungen zum wirtschafts- bzw. tarifpolitischen Kurs erklären zu einem guten Teil die Hindernisse auf dem Weg einer offensiven Gegenstrategie der Gewerkschaften. Die unterschiedlichen Auffassungen bezüglich Bewegungsführung kommen noch hinzu. Diese sind ganz deutlich am letzten EGB-Kongress von Athen zur Sprache gekommen. Zwei mögliche Kampagnen, die das Potential gehabt hätten, eine echte koordinierte Gegenoffensive in die Wege zu leiten, standen zur Diskussion.

Die erste Kampagne mit dem Motto „Gleiche Löhne – Gleiche Rechte“ will den Kampf für die Arbeitnehmerrechte, die fast überall unter die Räder gekommen sind, und den Kampf gegen das sich verbreitende Lohndumping ins Zentrum zu stellen. Als Hebel für eine solche Kampagne hatte der SGB die Lancierung einer Europäischen Bürgerinitiative (EBI) unter dem Motto »Für ein Europa ohne Sozialdumping – Soziale Grundrechte vor Binnenmarktfreiheiten« vorgeschlagen. Gemäß der Lissabonner Verträge können 1 Million BürgerInnen ab dem 1. April 2012 die EU-Behörden dazu bewegen, gesetzgeberisch aktiv zu werden. Eine solche EBI würde die EU beauftragen, Vorkehrungen zu treffen, damit der Vorrang der sozialen Grundrechte vor den Binnenmarktfreiheiten sowie der Grundsatz »Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit« nach dem Arbeitsortsprinzip in Zukunft in der EU allgemein gelten 9). In Zusammenhang mit den EuGH-Urteilen Laval und Rüffert würde das bedeuten, dass den entsandten Arbeitnehmern in Schweden schwedische und nicht lettische Löhne bezahlt werden und in Deutschland auch polnische Unternehmen regionale Mindestlöhne einhalten müssen. 10)

Die Lancierung einer EBI würde ermöglichen, eine breite politische Sensibilisierung und Mobilisierung vor Ort, in den Betrieben und in ganz Europa herbeizuführen, was bis jetzt noch nie versucht wurde. Andere soziale Bewegungen und politische Kräfte könnten dafür gewonnen werden. Der EGB-Kongress hat dem Antrag für diese Kampagne im Prinzip zugestimmt und den Auftrag für deren Konkretisierung einer Arbeitsgruppe übertragen, er hat aber nicht grünes Licht für den verbindlichsten thematischen Hebel dazu gegeben, nämlich die Lancierung der vorgeschlagenen europäischen Bürgerinitiative. Der mögliche Einsatz eines solchen Instruments soll noch im Rahmen dieser Arbeitsgruppe geprüft werden. Die Bedenken und Widerstände kommen vor allem aus Ländern wie Frankreich, Belgien oder Italien, deren Gewerkschaftsorganisationen der Ansicht sind, es gehöre nicht zu ihrer Tradition, Unterschriften für eine Initiative oder eine Petition zu sammeln. Manche von ihnen unterschätzen das Potential einer Volksinitiative, um den nötigen politischen Druck aufzubauen und die andauernde politische Blockade zu überwinden. Gerade weil die EU-Behörde kürzlich erneut bestätigt hat, dass sie nicht gewillt ist, die fragliche EuGH-Urteile zu korrigieren, stellt sich die simple Frage:„kapitulieren oder nicht“. Der einzige realpolitisch wirksame Weg gegen das Kapitulieren wäre eben jener einer EBI. Deswegen wird der SGB darauf insistieren.

Die zweite Kampagne betrifft die Antwort auf die herrschende Wirtschaftspolitik und auf die immer brutaleren Sparpläne im Rahmen des Euro-Paktes. Dringend nötig ist ein quantitativer und qualitativer Sprung in der europäischen Koordination der nationalen Demonstrationen und Streiks. Dies ist die Voraussetzung, um mit der Zeit einen politischen Kurswechsel herbeiführen zu können. Ohne Begeisterung hat der EGB-Kongress einen Antrag der Spanischen Bünde CC.OO und UGT akzeptiert, welcher den EGB und seine Mitgliederbünde auffordert, koordinierte europäische Streiks bis zu einem europäischen Generalstreik zu prüfen. Es ist zu befürchten, dass daraus wenig wird, wenn man sich die Zwischenresultate der eingesetzten Arbeitsgruppe „EGB-Kampagne“ anschaut. Verschiedene Faktoren wirken als Bremse. Vor allem die Schwächung der Gewerkschaften in manchen Ländern wiegt schwer, sie führt zu einem Rückzug im nationalen Rahmen 11) . Die unterschiedlichen Situationen zwischen den Überschussländern und den Defizitländern erschweren ausserdem die Formulierung von gemeinsamen Forderungen, welche auch gleichzeitig vorgetragen werden sollten.

Europa ja, aber anders!
All das entbindet aber nicht von der Pflicht alles zu tun, um eine positive Bewegungsperspektive zu entwickeln, da Vitales auf dem Spiel steht. An der Konferenz der Europäischen Föderation UNI (Dienstleistungsbranchen) in Toulouse vom 1./.10.2011 wurde auf Vorschlag von Schweizer Delegierten ein neuer Anlauf genommen. Vorgeschlagen ist eine europäische Kampagne, die einen ersten Aktionstag im Frühling 2012 vorsieht, und der die Kraft der Gewerkschaften auf die europäische Ebene bringen soll sowie verglichen mit den bisherigen Aktivitäten einen qualitativen Schritt nach vorne bedeuten würde. Der Start würde in einer europaweiten symbolischen Aktion in Form eines „Europa-Alarm“, der „auf 5’ vor 12 Uhr“ angesetzt würde, erfolgen. Mögliche Slogans wären: „Arbeit! Lohn! Rechte! – statt Spekulation, Diktat und Todsparerei!“, „Die Reichen sollen zahlen“, „Europa, aber anders“. Die Alarm-Aktion fände vorwiegend auf betrieblicher Ebene statt: Belegschaften werden zu Versammlungen im/vor dem Betrieb aufgerufen, Alarmsirenen sollen heulen, die Mittagspause wird vorverlegt und evtl. auch verlängert. Diese Aktionsform ist für starke wie auch für schwache Betriebsgruppen der Gewerkschaften geeignet. Gleichzeitig kann der Alarm auch im weiteren öffentlichen Raum stattfinden und wahrgenommen werden. Der Europa-Alarm wäre als Kampagne zu konzipieren, d.h. er wäre wiederhol- und steigerbar.

Die Unia-Delegierten haben einen ähnlichen Antrag für den Kongress der Europäischen Föderation der Bau- und Holzarbeiter eingebracht. Mit oder ohne EGB ist es an der Zeit, dass die widerstandswilligen Kräfte in Europa das Zepter in die Hand nehmen. Auf dem Spiel steht nicht nur das „Soziale Europa“, sondern das Überleben der Gewerkschaften überhaupt als politisch ernstzunehmende soziale Gegenkraft auf unserem Kontinent! Der Einsatz der Schweizer Gewerkschaften im europäischen Rahmen hat mit geteilter Verantwortung und Solidarität im Interesse aller Arbeitnehmenden zu tun. Es ist in der Schweiz inzwischen ein billiges und populäres Spielchen von Medien und PolitikerInnen, gegen die EU ins Feld zu ziehen und sich von ihr zu distanzieren, und dies nicht nur seitens der Rechtspopulisten. Fact ist aber, dass die EU weiterhin den institutionellen Rahmen für Frieden und den Wohlstand in Europa sichert, also auch in der Schweiz. Entweder gelingt es uns, mit unseren europäischen KollegInnen die zunehmenden Ungleichgewichte in der Einkommens- und Vermögensverteilung, die die eigentliche Ursache der aktuellen schwerwiegenden Krise sind, durch einen politischen Kurswechsel zu stoppen und rückgängig zu machen oder unsere Zukunft wird alles anderes als rosig sein.

Anmerkungen
1) K. Busch/D. Hirschel: Europa am Scheideweg – Wege aus der Krise, Friedrich Ebert Stiftung, März 2011, S. 3. Siehe auch Beitrag von V. Pedrina „Die Schuldenkrise und die europäische Gewerkschaftsbewegung“, Revue Sozialismus, 7/2011
2) EU = Europäische Union; IMF = Internationaler Währungsfonds; EZB = Europäische Zentralbank
3) Im ganzen öffentlichen und para-öffentlichen Sektor wurden die GAV durch ein einheitliches tieferes Lohnsystem ersetzt
4) K. Busch/D. Hirschel, Ebd.., S. 4
5) EGB-Manifest von Athen (Mai 2011); EGB-Erklärung zur aktuellen wirtschaftlichen Lage (20.10.2011)
6) R. Bsirske, Ver.di-Vorsitzender: Grundsatzrede am ver.di Kongress vom 20.9.2011
7) Referat von Andrew Watt, European Trade Union Institute (ETUI), „Wage-setting: what it can and cannot do – Europe: what it does and does not need“, an der EU-Expert Conference „Wages Trends in Europe“ (Brussels, 15.9.2011)
8) Der Fall “Laval” betrifft einen Konflikt auf der Baustelle einer Schule, wo die lettische Firma “lettische Löhne” bezahlt. Es führte zu einer Arbeitsblockade der Gewerkschaft, um das Prinzip „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort“ durchzusetzen, dh. konkret „schwedische Löhne“. Der EuGH verurteilte die Gewerkschaft und öffnete damit die Verbreitung von Lohndumping in Europa.
9) Wir verweisen auf das Buch von Alain Supiot „L’esprit de Philadelphie – La justice sociale face au marché total“, Editions du Seuil 2010 (Deutsche Übersetzung vorhanden)
10) Vgl. Paul Rechsteiner, Heft 57 …
11) Auch in der Schweiz wäre es mehr als fraglich, ob Solidaritätsstreiks zugunsten der südeuropäischen KollegInnen möglich wären. Dies trotz der starken Präsenz von MigrantInnen aus Süd- und Südosteuropa. Auf der anderen Seite zeigt die neu entstandene „Occupy“-Bewegung, dass die Unzufriedenheit mit den bestehenden Zuständen und die Widerstandskraft weltweit wächst, auch in denjenigen Ländern, die von der Schuldenkrise und Austeritätspolitik noch weitgehend verschont worden sind.

Dieser Artikel erschien zum ersten Mal in der Zeitschrift Widerspruch (Nr. 2, 2011)

Vasco Pedrina ist Nationaler Sekretär der Unia, Vizepräsident der Bau- und Holzarbeiter-Internationale und Vertreter des Schweizer Gewerkschaftsbundes (SGB) im Vorstand des EGB. Die Unia organisiert die Arbeitnehmer in Industrie, Gewerbe, Bau und privatem Dienstleistungssektor. Neben der Unia sind im SGB 15 Einzelgewerkschaften zusammengefasst