… Die Auseinandersetzung um Griechenland … in anderer Hinsicht eine Exemplarische geworden, etwa ein Exempel dafür, wie sich in Europa ein Regime des autoritären Regierens durchsetzt, wie mehr und mehr durch Ukas und Drohung, mit einem Regime der Angst agiert wird, mit Ultimaten und „friss oder stirb“, mit Einschüchterung und Angst vor der Katastrophe, mit dem erklärten Ziel von Eurogruppenstrippenziehern, unliebsame Regierungen, aber einfach auch nur widerspenstige Bürger zu disziplinieren, diese fühlen zu lassen, wenn sie die Unverfrorenheit haben, die Falschen zu wählen. Das erwies sich in Griechenland jetzt in seiner krassesten Form, wenn aber bei anderer Gelegenheit die Premiers Europas von einer nächtlichen Notsitzung zurückkommen, und ihren Parlamenten sagen, sie müssten nun sofort zustimmen, sonst ginge die Welt unter, ist das bloß eine geringfügig sanftere Weise dieses Regierungsstils, der Demokratie unter die Räder kommen lässt. Es ist eine Demokratie fast ohne Parlamentarier, und eine Demokratie ohne Bürger sowieso schon längst. Diese schwarze Utopie des autoritären Durchregierens von Oben nach Unten, diese Dystopie, die neuerdings mit dem Namen von Wolfgang Schäuble verbunden wird, aber natürlich weit mehr als dessen privat-politischer Spleen ist, hat sich in dem Drama der letzten Monate in ihrer Reinkultur gezeigt, in aller Offenheit und Unverfrorenheit, aber sie ist natürlich nichts, was nur den Griechen blüht. Wir, die Europäer, wir alle sind damit gemeint.
Oder, um Ernst Bloch zu paraphrasieren: es ist eine „Entstellung zur Kenntlichkeit“, die Enthüllung des wahren Charakters des zeitgenössischen Regierungsstils im Kapitalismus der Dauerkrise. In diesem Kapitalismus fühlen sich die herrschenden Eliten immer seltener gezwungen (oder auch: immer seltener in der Lage), durch positive Botschaften die Bürger bei der Stange zu halten, mit Hilfe des Konsens‘ zu regieren. Der Krisenkapitalismus wird zum „autoritären Etatismus“, wie ihn schon Nikos Poulantzas analysiert hat, diese Legendenfigur unter den griechischen linken Theoretikern, der Zeitgenosse und Debattenpartner von Foucault und Althusser, dem die Parteiakademie von Syriza ja auch ihren Namen verdankt.
Syriza wird zur Scheidemünze. Jetzt lernen wir wieder, was elementare Meinungsverschiedenheiten sein können.
Es gehört zu den Eigentümlichkeiten dieses zeitgenössischen Regierungsstils, dass er für gewöhnlich ja auf sanften Pfoten daher kommt, sich mit der Aura des Technokratischen, den Pragmatischen zugleich großtut und kleintut. Großtut, indem er sich als die einzige moderne Form verwalterischer Politik imaginiert, und alle andere Politik als ‚unmodern‘ zu branden versucht, kleintut, indem er sich als Kleinkunst des Möglichen darstellt, ohne große Vision oder irgend solche Dinge für Phantasten.
Es ist kein Wunder, dass gerade dieser Politikstil mit dem Stil von Syriza kollidieren musste, dass gerade dieser Politikstil die Syriza-Leute als „Populisten“ zu diskreditieren versucht. Populismus ist nicht eine politische Logik unter einer Reihe verschiedener politischer Logiken, er ist, wenn man ihn richtig versteht, „die politische Logik“. Die technokratische Logik ist nicht eine alternative politische Logik, sondern sie ist eine unpolitische Logik, die den normalen Leuten keinen Platz mehr in der politischen Arena zugesteht, sondern auf verwalterische Weise über stummgemachte Bürger herrscht. Das begründet die seltsame Verwandtschaft des Pragmatismus mit dem Autoritarismus. Der Pragmatismus braucht keine Bürger, die sich beteiligen, weil die nur stören würden. „Wir müssen Populismus als den Weg betrachten, die Einheit einer Gruppe erst zu konstituieren“, schreibt der jüngst verstorbene argentinisch-britische Philosoph Ernesto Laclau in seinem Buch „On Populist Reason“ („Über populistische Vernunft“). Das Volk, das der Populismus adressiert, existiert nicht bereits, es wird durch ihn erst erschaffen. Oder zusammengeschweißt, um das salopp zu sagen. Der Populismus spricht nicht alle Bürger an, also den populus, sondern vor allem die plebs, die Unterprivilegierten, die bisher nicht gehört werden. Aber er ist mehr als das, er ist eine politisch-rhetorische Operation, die postuliert, dass „die plebs der einzig legitime populus ist“ (Laclau), und die die demokratischen und die sozialen Rechte der normalen Leute gegenüber den Eliten und den Oligarchen artikuliert. Populismus ist „die Stimme derer die aus dem System exkludiert sind“. Er stiftet relative Identität unter heterogenen Gruppen, den Gruppen jener, die sich angesprochen fühlen. Populismus, so verstanden, ist eine widerständige (gegen-)hegemoniale Strategie gegen die Hegemonie der neoliberalen Postpolitik. Laclau: Nur der Populismus „ist politisch; der andere Typus bedeutet den Tod der Politik.“
Populismus ist „die Stimme derer die aus dem System exkludiert sind.“ ERNESTO LACLAU
Es ist dieser Wiederaufstieg eminenter politischer Überzeugungen vor dem die neoliberalen Eliten Angst haben. Niemand hat das in so verblüffender Offenheit gesagt wie der EU-Ratspräsident Donald Tusk, der Mann, der am Ende der langen Nacht von Brüssel gemeinsam mit Frankreichs Präsident Francois Hollande doch noch einen Kompromiss zwischen Angela Merkel und Alexis Tsipras ausverhandelt hat.
Nachdem er sich ausgeschlafen hatte, bestellte Tusk sich eine Runde handverlesener Journalisten ein und sagte: „Wovor ich wirkliche Angst habe ist diese ideologische oder politische Ansteckung, nicht die finanzielle Ansteckung, durch die griechische Krise. Mir erscheint die Atmosphäre schon ähnlich wie in den Jahren nach 1968 in Europa. Ich spüre eine, vielleicht nicht revolutionäre Stimmung, aber doch so etwas wie eine verbreitete Ungeduld. Wenn Ungeduld nicht zu einer individuellen, sondern zu einer sozialen Emotion wird, dann ist das meist der erste Schritt zu Revolutionen.“
Wovor Tusk Angst hat, das ist wiederum die Herausforderung für alle, die diese Europäische Union vor ihren Eliten retten wollen. Wie kann man diese Ungeduld in Pragmatismus übersetzen, ohne mit dem Klein-Klein die eigenen Leute zu demoralisieren? Das ist die Herausforderung, vor der Alexis Tsipras heute steht und davon, wie er sie zu meistern versteht, wird die Zukunft seiner Regierung abhängen. Alle anderen stehen vor der Herausforderung, diese Ansteckung, vor der Tusk so panische Angst hat, zu organisieren. Denn wenn die letzten Monate zwei Dinge gezeigt haben, dann diese: Griechenland ist gewissermaßen die Nussschale, in der diese Auseinandersetzung bisher geführt wurde. Aber man wird keine Seeschlacht in einer Nussschale gewinnen.
„Mir erscheint die Atmosphäre schon ähnlich wie in den Jahren nach 1968 … eine verbreitete Ungeduld, … der erste Schritt zu Revolutionen.“ DONALD TUSK, EU-RATSPRÄSIDENT
Man wird sie ohnehin auf eine Weise gewinnen, bei der dann nicht ganz klar ist, was genau „gewinnen“ eigentlich heißt. Noch immer spukt dieser Satz von George Orwell in meinem Kopf herum. Da der vernünftige Reporter nie ohne ein Buch dieses großen Reporters auf Reisen geht, habe ich die Passage schnell bei der Hand. „Die größte Schwierigkeit liegt aber darin“, schrieb Orwell nach dem ersten Regierungsantritt der britischen Labour Party, „dass die Linke jetzt an der Macht ist und sich gezwungen sieht, die Verantwortung zu übernehmen und Entscheidungen zu treffen. Linke Regierungen sind für ihre Anhänger fast immer enttäuschend, weil selbst wenn der versprochene Wohlstand verwirklicht werden kann, immer noch eine unerfreuliche Übergangszeit überwunden werden muss, von der vorher nie oder kaum die Rede war.“
Auszug aus: „Die verunsicherte Revolution“, von Robert Misik. Der vollständige Artikel ist auf misik.at erschienen. Robert Misik ist Journalist und Sachbuchautor. Er lebt und arbeitet in Wien.